Auch ich war in Siena
Ein Stimmungsbericht von einer Chorakademie
von Eva Zander
(erschienen in CHOR UND KONZERT 3/95)
Siena! - Der Klang des Namens zaubert die sanft geschwungenen Höhen der Toscana vors Auge -
man glaubt den Duft der Pinien zu verspüren - man schmeckt den toskanischen Wein auf der
Zunge und im Gaumen. Und wieder schiebt man sich mit einem unaufhörlichen Menschenstrom
durch die faszinierende, dem Hang angepaßte Archietektonik uralter Gassen zur halbrunden,
leicht ansteigenden, muschelartig bepflasterten Piazza del Campo. Hier, auf einem der
schönsten aller schönen italienischen Plätze, ist der Austragungsort des berühmten
Pferderennens, des Palio. Tauben umflattern den figurengeschmückten Brunnen in der Mitte,
und von den Verkaufsbuden mit den bunten Fahnen der Contraden schweift der Blick zur
Backsteinfassade des Rathauses, der marmornen Loggia, dem imponierenden Mangia-Turm. Zur
Linken wandert man wieder durch die Schlucht der Via del Porrione, vorbei an der antikisch
anmutenden Kirche San Martino, bis zur Hausnummer 85.
An der uralten Holztür weist das bekannte Schild den Weg: "Chorakademie Siena". Durch einen
überdachten Innenhof betritt man schließlich die weitläufigen Räumlichkeiten der Seneser
Gesellschaft zur Pflege der schönen Künste (I Riuniti). Hier, wo der Glanz vergangener
Pracht längst Patina angesetzt hat, finden viermal im Sommer Sangesbegeisterte aus
deutschen Landen zu einer Kurswoche zusammen: die Ärztin und der Gärtner, der Musikverleger
und die Sekretärin, der Zivi und die pensionierte Lehrerin - was immer in heimatlichen
Gefilden dem Chorgesang huldigt, wächst hier schnell zu einer gemeinschaft zusammen. Das Du
verbindet von der ersten Stunde an.
Um zehn Uhr morgens beginnt der Tag mit einem gemeinsamen Stimmtraining bei Adelheid Peper,
der Initiatorin und Leiterin des Unternehmens, "Mutter" aller derer, die sich ihr für eine
Woche anvertrauen. Später am Tag gliedern sich die Aktivitäten in zum Teil zeitlich
parallel verlaufende Kurse in kleinen Gruppen: Intonationsübungen, Blattsingen, sensitives
Singen, Ensemblesingen,Harmonielehre, Chorleitung, Korrepetition und endlich Einzelstunden
Gesang. Für alles dies hält Adelheid eine Palette von Fachkräften bereit, die in
wöchentlich wechselndem Turnus den Unterricht betreuen. Hier erschließt sich einem auch die
Literatur der kleinen Formen, Lieder, Madrigale, Motetten, für die in den großen
Oratorienchören kein Raum ist. Dabei kann ein und dieselbe Materie methodisch natürlich
sehr unterschiedlich dargeboten werden, mehr theoretisch oder stärker praxisbezogen,
entsprechend der Persönlichkeit des Dozenten.
Ja, auf diesem Angebot beruht der eigentliche Reiz der Chorakademie, denn - im Widerspruch
zum Namen des Unternehmens - steht der Chorgesang selbst nicht im Mittelpunkt der
Veranstaltungen. Sie ergänzen ihn vielmehr, dienen ihm. Und: individuelle Wünsche werden
von der bis zum äußersten flexiblen Organisation nach Möglichkeit erfüllt. Die Wahl steht
frei, einschließlich der Wahl des dolce far niente. Wer nicht auf seine Kosten kommt, ist
selbst schuld.
Freilich - die Woche ist viel zu kurz! Eigentlich wollte man in der Freistunde schnell
einmal den herrlichen Dom besichtigen, eigentlich wollte man zwischendurch im Museum die
zauberhaften Madonnen besichtigen, eigentlich wollte man "nur" einmal eben auf der Piazza
einen Espresso zu sich nehmen und das Ambiente genießen - aber schon schließt man sich
spontan einer Arbeitsgruppe an, deren Angebot man ursprünglich gar nicht gewählt hat, und
singt ganz einfach mit. Dann macht man Kassensturz und zückt den Kalender - denn Adelheid
bietet die Verlängerungswoche zum ermäßigten Preis an...
Überraschenderweise erwachsen am Ende der Woche aus den diversen Gruppenaktivitäten doch
noch gemeinsame und durchaus hörenswerte chorische Beiträge zur Gestaltung der Abendvesper
am Freitag in San Martino, wo es wunderbar klingt. Mehrfach beschließen Vorträge über
bekannte Chorwerke mit ausgedehnten Musikbeispielen den Akademietag, der fast immer mit
einem gemeinsamen Essen in einem urigen kleinen Ristorante der Stadt ausklingt.
Schwierigkeiten mit der italienischen speisekarte? Adelheids Sprachkenntnisse und ihre
intime Vertrautheit mit allen Küchengeheimnissen lösen jedes Problem. Vielleicht aber - die
eigenen PKWs werden dazu vom entfernten Parkplatz geholt - diniert man überhaupt an einer
besonders romantischen Stelle der Campagna, wo man die Sonne unter- und den Mond über den
Mauern und Türmen von Siena aufgehen sieht, wenn nicht gar in Adelheids eigenem Haus weit
draußen auf der Höhe.
War auch der Wein hervorragend und die Nacht ein bißchen kurz, auch weil sich südliches
Temperament just unterm Schlafzimmerfenster entfaltete - um 10 Uhr am nächsten Morgen
beginnt ein neuer Tag: da capo al fine. Der unermüdliche Franco, die Perle der Institution,
weckt die Lebensgeister mit Getränken nach Wunsch und stillt mittags mit hausgemachten,
sehr wohlschmeckenden Pasten und Salaten jeden Hunger. Da plötzlich trommelt es unter dem
Fenster, und mit schwingenden Fahnen ziehen die buntgekleideten Angehörigen einer Contrada
zur Ehre ihres Heiligen durch die Stadt und in die Kirche. Für uns steht die abendliche
Besichtigung des Contrada-Museums der Chiocciola auf dem Programm, des Stadtteils mit der
Schnecke im Wappen. Wer hat schon einmal eine Schnecke singen hören? Studium und ferien
verschmelzen untrennbar in einer Sing-Woche der Chorakademie.
Dort gewonnene neue Erkenntnisse oder Bestätigung und Befestigung von bereits Bekanntem,
Gewußtem - sie sind abhängig von der musikalischen Vorbildung des Einzelnen, aber auch
seiner Offenheit und seinem persönlichen Einsatz im Kurs. Gewiß jedoch atmen die
Sängerinnen und Sänger, die aus Siena in ihre heimatlichen Chöre zurückkehren, anders als
zuvor. Sie sind sich ihres Körpers bewußter geworden und haben gelernt, ihre stimmlichen
Möglichkeiten sinnvoller zu nutzen und gewinnbringender einzusetzen. Ihre Sicherheit im
Treffen und Halten von Tönen ist gewachsen, denn ihr Ohr wurde harmonisch geschärft - auch
für die Homogenität eines gemeinsam erzeugten Klangs. Sie haben ein tieferes Verständnis
für eine Komposition und ihre Gesetzmäßigkeiten gewonnen. Kurz, sie sind chorisch
präsenter, musikalisch kompetenter geworden.
Und ganz gewiß werden sie einander wiedersehen, spätestens beim nächsten Siena-Treffen
irgendwo in Deutschland, vielleicht aber auch im kommenden Jahr bei Adelheid in Siena
selbst. Es gibt ja noch so viel zu lernen, zu erfahren, zu erleben und zu singen!